“Abendmahl” lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.
Abendmahl
Gesenkten Hauptes, wie suchend nach einem verlorengegangenen Geldstück, schritten einige gutgebügelte Sonntagsanzüge in Richtung Kirche, als wenn jeder von ihnen sein Kreuz zu tragen hätte. Für Feierlichkeiten war die Kirche immer noch gut genug, ob nun zur Taufe, Kommunion oder Konfirmation, zur Hochzeit oder zur Beerdigung. Und was ein pflichtgetreuer Bürger war, der kam dem sonntäglichen Gottesdienst, der Beichte oder dem Abendmahl nach, um der Welt seine Frömmigkeit zu präsentieren.
Nachdem der Choral der schrägen Stimmen beendet war, sprach der Pfarrer auf der Kanzel: „Lasset uns beten!“ Und gehorsam plapperten die Leute ein Gebet nach, so wie wenn Soldaten einen Fahneneid leisten oder im Gleichschritt marschieren, ohne nachzudenken. Der Pfarrer sprach von Schafen, die doch eigentlich alle Menschen wären, von Lammfrömmigkeit und Opfersinn.
Auch ein unrasierter, dickbäuchiger Mann in zerfranster Kleidung und mit einer Whiskyflasche in der Tasche betete mit, jedoch auf seine Art. Zum Ende des Gebets sagte er nicht ‚Amen‘ sondern ‚Prost‘, hob die Flasche und trank. Dies war seine Art von Abendmahl. Nach einigen scharfen Blicken des Pfarrers griff der Küster auch schon ein, beziehungsweise: zu. Er packte den Störenfried am Kragen und warf ihn vor die Tür, hinaus in die Kälte.
„Lasst mich zu meinem Vater“ rief der Betrunkene: „ich will mich bei meinem Vater für den guten Schnaps und die schlechte Welt bedanken“.