An der Brücke

„An der Brücke“ lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.

An der Brücke

Ich musste auf meinem Heimweg noch eine Brücke überqueren, an deren Rand
ich einen einbeinigen Mann mit Brille erkannte. “Kann ich Ihnen helfen?“ fragte
ich freundlich und doch reserviert, wie wenn man jemanden nach der Uhrzeit fragt.
„Mir kann keiner mehr helfen“, antwortete der Mann missmutig. „Aber Sie können
doch nicht einfach hier sitzen bleiben“, unterstellte ich. „Ich kann nicht, sondern ich
muss. Ich bin nämlich Statist….“ In diesem Augenblick fuhr ein schwer beladener
LKW donnernd über die Brücke und mit zitternder Hand malte der Mann ein Kreuz auf
einen Papierbogen.

„Was machen Sie denn da“, fragte ich neugierig. „Ich zähle die LKW, die täglich diese
Brücke passieren“, erklärte der Mann. “Warum tun Sie das?“ fragte ich etwas verstört.
„Ich muss es doch tun, denn das ist alles was ich kann“, sagte der Mann. “Nein,“ berichtigte
ich mich “ ich meine, welcher Sinn und Zweck steckt hinter diesem Unterfangen?“
„Ach so,“ raunte er, „das will ich Ihnen sagen: so will man feststellen wann der Belastungsgrad
der Brücke erreicht ist, bei dem sie unter der ständigen Last tonnenschwerer LKW droht
einzustürzen“. „Und was gedenkt man demnach dagegen zu tun?“ fragte ich beinahe zynisch.
„Nun, wenn der kritische Punkt erreicht ist, wird man die Brücke in die Luft sprengen und eine
Neue errichten. Bumms! So einfach ist das“.

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Doch ich wollte keine Ruhe geben: “Was aber geschieht wenn die Brücke schon vorher,
durch einen Flugzeugabsturz, Erdbeben oder Krieg zu Bruch geht. Was sind denn dann all Ihre
Berechnungen wert?“ Ich versuchte, dem Mann tief in die Augen zu blicken aber spiegelte
mich nur in seinen Brillengläsern. Wieder ratterte ein LKW über die Brücke und erneut
malte der Mann sein Kreuz.

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