“Der Alte im Buchladen” lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.
Helmut Voigt hätte heute seinen 60. Geburtstag gefeiert. Anlässlich (und zu Ehren) dazu haben wir am heutigen Tag diesen (und noch einige weitere) Beiträge von ihm veröffentlicht.
Der Alte im Buchladen
Der alte Mann erinnerte sich an den alten Buchladen mit den Dreigroschenromanen in Millionenauflage bis hin zu den wertvoll in Leder eingebundenen Bibeln mit goldener Aufschrift. Er gedachte der verstaubten, verbrannten und vergessenen Bücher ebenso, wie der vergriffenen, begriffenen, abgegriffenen und gebrauchten Bücher, deren Aussehen verriet, dass sie gelesen, vielleicht sogar verstanden worden waren.
Er fragte sich, wieviel Bäume wohl seither für diese Buchhandlung hatten sterben müssen. Vor sich nur Bücher, Bücher, nichts als Bücher, vom Kinderbuch bis zum Gesellschaftsroman, vom Gedicht zum Bildband, von Atlanten mit Landkarten, auf denen man mit einer Handbewegung über die ganze Welt fahren konnte, mit scharf gezogenen Grenzen überall, bis hin zu den scheinbar grenzenlosen Fantasien der Dichter und Denker.
Und er hatte so vieles gelesen, beispielsweise wenn kein Kunde kam oder auch abends, wenn er zu Bett ging, dann nahm er noch heimlich ein oder zwei Bücher mit und las mitunter die ganze Nacht hindurch, so dass ihn der Bibliothekar morgens grinsend gefragt hatte, ob er die Nacht wieder einmal durchzecht habe, weil er schon wieder so verschlafen aussehe.
Dort wo andere und dann wenn andere schlummerten und träumten, da las er, um begierig alles in sich aufzusaugen. Vielleicht hatte diese Tatsache dazu geführt, dass er Schriftsteller geworden war, denn seine Muttersprache hatte ihn, wie sein Vaterland stets verfolgt und er floh vor ihr in das Exil, als die Kreuze Haken bekamen und die Bücher des Anstreichers und Volksverführers immer höhere Auflagen erreichten und einen immer höheren Absatz hatten. Seine Werke hingegen wurden verbrannt und verboten und er hatte sich schon damals gedacht, ob sein Werk sich, ihn und die Zeit wohl überleben würde. Er selbst hatte sich, ebenso wie die Zeit verändert. Doch während sich die Zeit moderner verstand, war er selbst gealtert.
„Ich möchte ein Buch kaufen“, sprach er zu dem jungen Verkäufer, der ihm gegenüberstand und ihn irgendwie an sich an sich selbst und seine Vergangenheit denken ließ. „Was soll es denn sein?“, fragte der Verkäufer freundlich, wie ein Waschmittelvertreter. „Ein Buch von …“ Der alte Mann nannte seinen eigenen Namen. „Wie ist denn der Titel, wenn ich fragen darf?“ forschte der Verkäufer auf höfliche Art. „Aus früher Zeit“, sagte der alte Mann und lächelte. “Aha“, bestätigte der Verkäufer wohlwissend, griff mit einer geschickten Handbewegung in eines der scheinbar unzähligen Regale und hielt strahlenden Gesichts ein Buch in die Höhe. “Hier ist es, Sie haben Glück, mein Herr, ein Sonderangebot!“ „Können Sie mir vielleicht etwas sagen, das Sie über den Autor wissen?“ fragte der alte Mann mit leicht ironischem Unterton. „Aber natürlich, mein Herr“, entgegnete der junge Verkäufer beinahe empört, „er war doch ein großer Schriftsteller“.
Als der Verkäufer gerade mit der Aufzählung einiger Werke beginnen wollte, um sein Fachwissen unter Beweis zu stellen, unterbrach ihn der alte Mann: “Nein, nein, ich meine doch, ob Sie etwas von ihm persönlich wissen oder möglicherweise seine Persönlichkeit in seinem Werk erkannt haben,….und ach, was ich Sie noch fragen wollte: Warum sagten Sie eben: „er war ein großer Schriftsteller?“ „Nun“, stammelte der Verkäufer etwas kleinlaut und verlegen, „ich kenne ihn zwar weder persönlich noch weiß ich viel über den Verlauf seines Lebens zu berichten. Ich kenne nur einen Teil seines Werkes, denn ihn selbst kann ich ja wohl auch gar nicht mehr kennen und das ist auch der Grund, warum ich sagte „er war ein großer Schriftsteller“, denn…“ und nun wirkte die Stimme des Buchhändlers wieder bestimmter, „denn ich glaube, der ist doch wohl schon lange tot, oder…?“