“Die Jacke, die Uhr, die Flasche” lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.
Die Jacke, die Uhr, die Flasche
Ich will mich neu einkleiden, ziehe eine Jacke an
und… sie passt.
Bin ich jetzt angepasst?
Angepasst an Normen, weil meine Jacke eine Nummer hat?
Habe ich auch eine Nummer, oder schlimmer noch, bin ich eine?
Ich muss es mir eingestehen, auch wenn es mir nicht passt:
ich bin angepasst!
Und so, wie diese Jacke ihren Preis hat, hat auch mein Leben seinen Preis,
habe ich einen Preis, zu dem ich mich verkaufe.
Die Jacke ist gut gefüttert, so wie ich es war,
als ich mein Essen zubereitet auf den Tisch bekam.
Manchmal sind wir beide auch zugeknöpft, doch sie hat die Taschen,
in die ich lügen und wirtschaften kann.
Nun wird die Jacke aufgehängt
und jetzt erst erkenne ich die Funktion dieser Jacke:
sie ist eine Zwangsjacke.
Ich schreie gegen den leeren Raum des Schweigens.
Alles um mich herum beengt mich und ich fürchte mich vor der Decke,
die mir an jedem Tag auf den Kopf zu fallen droht.
Das laute Hämmern in meinem Herzen, bis zu meinem Hals,
das ist die Uhr, die in mir zu schlagen scheint, immer im gleichen Takt,
die aufgezogen wurde, die mich weckt – laut rasselnd wie Eisenketten,
die irgendwann nicht mehr richtig tickt und stehen bleibt,
wenn ihre letzte Stunde geschlagen hat.
Ich schreie wieder.
Schreie wider die Einsamkeit.
Ich trinke aus einer Flasche Wein.
Vielleicht bin auch ich eine Flasche, versehen mit Etikett,
eine Flasche, in der mein Geist gefangen gehalten wird,
der Weingeist, der Flaschengeist. Mein Jahrgang ist unbedeutend,
denn die Reife hat man nur durch Geist, nicht durch Alter.
Es gärt in mir, doch ein kleiner Korken verschließt meine Seele.
Bald bin ich vielleicht nur noch das Flaschenpfand wert,
wenn ich nicht schon vorher in Scherben gehe.