Im Bus

“Im Bus” lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.

Im Bus

An ihm vorbei schien sich die Welt in rasender Geschwindigkeit zu bewegen. Dabei erkannte er gar nicht einmal, dass er es war, der sich bewegte. Träge starrte er aus einem Fenster des Busses und beobachtete die Autoschlangen und die ordnungsgemäß hintereinander aufgereihte Fußgängerwarteschlange an der Haltestelle. Während sich einige Fahrgäste hinter Zeitungen versteckten, klatschten, tratschten, zischelten und klapperten andere mit  ihren künstlichen Zähnen, wie Ringelnattern und Klapperschlangen.

Der Bus ruckte an, die Ampel leuchtete grün und er blickte wieder aus dem Fenster. Autos fuhren wie in geheimer Ordnung durch die Straßen und Fußgänger, womit sollten sie auch sonst gehen als mit ihren Füßen, wimmelten wie in einem großen Ameisenhaufen durcheinander. Vorbei ging es an Leuchtreklamen, Umleitungen, der Fabrikarbeitersiedlung, Wienerwald-Restaurants (die Hähnchenkeulen werden kalt) und vorbei an Auto- und Menschenfriedhöfen.

Vorbei an dem überdimensionalen Milchkarton mit der Aufschrift „Frisch und natürlich“, eingekeilt von Hochöfen und Tiefbauunternehmen. Vorbei, vorbei! Auch an Sackgassen, Verbotsschildern, Andreaskreuzen und durch Einbahnstraßen. Er sah die vordergründigen Reklamesprüche auf zerbröckelndem und zersplitterndem grauen Hintergrund, die nichts anderes besagten als die Sprüche auf den Wahlplakaten mit ihren stets lächelnden, lächerlichen Fratzen.

Hinter diesen Mauern waren Menschen gefangen, in Mietwohnungen, Zuchthäusern und Fabriken, verdeckt von der unmenschlichen Fassade der glitzernden, großartig glänzenden Großstadt. Ein armer Hund führte sein Frauchen über den Zebrastreifen spazieren, während es schien, als winke eine Frau am Fenster, obwohl sie doch nur die Scheibe wischte. Nun überquerte der Bus eine Brücke und fuhr weiterhin weiter hin. Die Gesichter der Menschen in dieser Wüste aus Stein hatten sich versteinert und das Gesicht des Busfahrers wirkte ebenso ledern wie seine Jacke, die er trug.

„Macht Platz, Kinder, ein alter Mann will sich setzen“, sagte ein alter Mann. Die Kinder machten Platz. “Seid still, sonst werfe ich euch raus1“; brüllte der Wagenführer. -Während der Fahrt nicht mit dem Wagenführer sprechen- stand auf einem Schild im Bus geschrieben. Die Kinder schwiegen. „Das ist die heutige Jugend“, beschwerte sich der alte Mann. „Zu meiner Zeit, da gab es noch Zucht und Ordnung. Aber heute? Wie die rumlaufen, die haben es ja viel zu gut, nicht wahr…?“ Der alte Mann suchte nach Bestätigung beim Busfahrer, der allerdings nur auf das über ihm hängende Schild verwies. Kein Fahrer und kein Alter schimpft, nur die Kinder pfeifen fröhlich durcheinander. Sie pfeifen auf die alte, kalte Welt.
Der Bus war jetzt berstend voll, angestaut mit Menschen und heißer Luft, doch die Blicke seiner Insassen waren kalt und leer. Das ständige Rucken des Busses wirkte sich bald im Magenzucken einiger Fahrgäste aus. Dazu bei trug sicherlich auch der Aufkleber an einigen Fensterscheiben des Busses, auf denen „Schwarzfahren: unfair – zahlen müssen andere“, geschrieben stand.

Nachdem sie einen Tunnel, in den sie wie in einem schwarzen Loch verschwanden, durchfahren hatten, tauchten auf der asphaltierten Straße Kinder auf, die mit einer Blechdose Fußball spielten. Plötzlich ertönte ein Quietschen und Kreischen von Kindergeschrei und Bremsen. Neben der zerbeulten Blechdose lag jetzt ein großer Haufen Blech und ein kleines Kind. Autos hupten und tuten ungeduldig. Einige Fahrer riefen: “Wann geht es denn endlich weiter, wer hält denn da den Verkehr auf?“ Hilflos wie Trauernde um das Grab standen einige neugierige Leute um den Unfallort herum und schienen auch mehr über die Tatsache beunruhigt zu sein, dass der Verkehr aufgehalten werden könnte, als dass sich soeben ein Unfall ereignet hatte.

„Wie konnte das nur geschehen?“, wurde der Fahrer des Unglückswagens immer wieder gefragt, der grau wie Toilettenpapier aussah und sich sicherlich (genauso) beschissen fühlte. “Warum haben Sie denn nicht mehr rechtzeitig gebremst?“ „Ich verstehe das einfach nicht“, wimmerte der Fahrer, „die Maschine muss außer Kontrolle geraten sein, die Bremsen haben versagt, grau…grauenhaft…“ Während schon von Weitem die Sirenen der Polizei und des Krankenwagens ertönten, entstiegen einige Fahrgäste dem Bus, entweder, um sich das dargebotene Schauspiel aus der Nähe zu betrachten oder aber, weil sie es eilig hatten und mit einer langen Wartezeit des Busses rechneten.
Rotbrauner Rauch stieg jetzt von den Fabriken wie Opferqualm gen Himmel.

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