“Lebensbaum” lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.
Helmut Voigt hätte heute seinen 60. Geburtstag gefeiert. Anlässlich (und zu Ehren) dazu haben wir am heutigen Tag diesen (und noch einige weitere) Beiträge von ihm veröffentlicht.
Lebensbaum
Bunt geschmückt mit Blumen, Kränzen und Kinderzeichnungen, war die sonst so grauenhaft graue, trostlose und düstere Kirche. Es wurden gemeinsam fröhliche Lieder gesungen, andere schwatzten und lachten. Während sich einige junge Leute innig umarmten, standen andere auf den Stühlen, um zu tanzen und begeistert mit zu klatschen, zu der Rockmusik, die ein Junge in verwaschenen Jeans auf der Orgel spielte. Die Empore war mit Luftballons und Lampions geschmückt.
Der bunt gekleidete Pastor auf der Kanzel las abwechselnd Gedichte vor oder stimmte zu Gospelgesängen an, wobei die Kirchgänger nicht, wie sonst üblich, ermüdeten oder gar wie bei manchen Predigten, einschliefen.
Klingelbeutel wurden herumgereicht und manche, die es ausreichend hatten, taten Geld hinein, während andere, die es brauchten, sich etwas heraus nahmen. Vor das Todeskreuz hatte man ein Lebensbäumchen gestellt. Doch schon bald waren sie da, die Ordnungshüter in Uniformen und zwangen die Gläubigen mit Waffengewalt, ihre widerrechtliche Kirchenbesetzung aufzugeben.
Schon wenige Tage später herrschte wieder völlige Ruhe und Ordnung in der Kirche. Götzenbilder wurden wieder aufgestellt, schwarz gekleidete Pfarrer standen wieder wie Richter des „Jüngsten Tages“ auf der Kanzel, um über den Tod Christi zu trauern.
Doch auch die aus der Kirche Vertriebenen trauerten, denn ihr Lebensbaum lag auf dem Misthaufen.