“Marys Opfer” lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.
Marys Opfer
Im Dom spiegelte sich das Leben wider. Es gab verzierte Fenster, riesige Bögen und einen monströsen, pompösen Altar, aber unten auch modrige, verwitterte Holzbänke auf kaltem Stein, schwarz verhängte Beichtstühle und einen goldenen Schrein, der hinter einer Absperrung lag, vor der ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“ angebracht war.
Besonders unheimlich erschienen mir jedoch die holzgeschnitzten Figuren und Heiligenbilder, sowie die kühlen Statuen mit ihren leblosen Blicken.
Plötzlich sah ich „Maria“ an der Tür stehen; ihre Augen waren geschlossen, ihr Haar reichte bis auf die Schultern, sie blickte unschuldig zu Boden und ihre Hände hatte sie gefaltet. Ich entzündete eine Kerze, um sie zu ihr zu tragen.
Jetzt erst erkannte ich, im matten Schein des Kerzenlichts, dass sie ein Schild mit der Aufschrift: „Judenhure“ um den Hals trug.
Ich riss das Schild ab, hielt es über die Kerzenflamme und streute die Asche in die Opferschale am Altar.