Mattzug

„Mattzug“ lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.

Mattzug

Auf dem Bahnhof herrschte ein seltsames Klima.
Große Züge fuhren ein und kleine Menschen stiegen aus.
Hast und Rastlosigkeit. Das Quietschen der bremsenden Züge und
das Rauschen der vorbeifahrenden Eisenbahnen vermischte sich
mit Stimmengewirr und der monotonen Durchsage des Bahnhofsprechers.
Der Zeiger der Bahnhofsuhr stand still, doch die Zeit war nicht stehengeblieben.
Die Städtenamen auf der großen Anzeigetafel rotierten.
Es war ein ständiges Treppauf, Treppab, ein Ein-und Aussteigen,
ein Gehen und nie mehr Wiedersehen.
Es roch nach Maschinen und Müll.In dieser hektischen Masse wimmelten auch drei Männer.
Am elegantesten gekleidet war ein kleiner, korpulenter Mann
im blauen Samtanzug, mit dunkler Krawatte und schwarzen Lackschuhen.
Sein Gesicht wirkte rosig, wie ein Babypopo.
Unter einem Arm klemmte eine graubraune Aktentasche.
An beiden Händen trug er Goldringe und eine goldene Uhr.

Sein weniges Haar war von Pomade und Parfüm verklebt.

Nur etwa zwei Meter entfernt stand ein Mann, dessen Gesicht
ebenso grau wie sein Anzug aussah.

Ein Stück weiter im Abseits befand sich eine weitere Person,
deren abgetragene Kleidung und zerzaustes Haar verächtlich
von umstehenden Passanten betrachtet wurde.
Obwohl er sich möglichst lässig an das Tunnelgeländer lehnte,
wirkten seine Gesichtszüge doch sehr verkrampft und verbissen.
Er trug einen dunkelgrauen, stoppligen Vollbart und seine dürren
Arme zitterten, obwohl es gar nicht kalt war, zumindest was die
Temperatur betraf, denn der dicke Mann im Samtanzug wischte sich
mit einem rosa Taschentuch den Schweiß von der Stirn und stöhnte,
ohne jedoch seine Krawatte zu lockern.
„Einfahrt hat der Eilzug auf Gleis 3!“
tönte die blecherne Stimme aus dem Bahnhofslautsprecher.

Nun rollte die Menschenmasse dem Rand des Bahnsteigs entgegen.
In diesem Getümmel sich drängender Leute, stürzte ganz plötzlich
der stoppelbärtige Mann auf die Gleise.

Wieder war das Kreischen der bremsenden Züge zu hören, vermengt
mit dem Kreischen und Schreien der wartenden Masse, die wohl mehr

über die Tatsache beunruhigt war, eine zeitliche Verzögerung des
Fahrplans in Kauf nehmen zu müssen, als darüber,
dass soeben vermutlich ein Unfall passiert war.
Später dann, nachdem sich die Menschenmenge beruhigt hatte
und die Schienen geräumt waren, flüsterte der Mann im grauen Anzug zu dem dicken Mann
herüber:“ Ein schrecklicher Unfall, nicht wahr?“

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